Oktober 29, 2010

Deutschland und die Europäische Union: Reset oder Update?

Deutschland spürt zunehmend die Last seiner Führungsrolle in der Europäischen Union. Die Frage von Ulrike Guérot vom European Council on Foreign Relations "Wie viel Europa darf es sein?" ist legitim und zeitgemäß. In ihrem Papier stellte die Autorin fest:
"Deutschland muss sich entscheiden, ob es im Alleingang aus der Europäischen Integration herauswachsen möchte, oder - als Hauptdarsteller und Hauptgewinner zugleich - ganz Europa in eine neue globale Rolle im 21. Jahrhundert führen möchte. Die europäischen Partner sollten indes alles tun, um Deutschland diesen Schritt zu einem solidarischen und starken Euro und Europa zu erleichtern!"
Mit dieser Last im Gepäck reiste Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Brüssel zur Tagung des Europäischen Rates in Brüssel am 28. und 29. Oktober 2010. Auf dem Programm standen vier wichtige Bereiche, in denen eine Abstimmung auf europäischer Ebene zum gemeinschaftlichen Auftreten der Europäischen Union in  wirtschaftlichen, klima- und außenpolitischen Belangen notwendig gewesen war:
  1. Arbeitsgruppe "Wirtschaftspolitische Steuerung"
  2. G-20 Gipfel in Seoul
  3. UN-Klimakonferenz in Cancun
  4. Vorbereitung der Gipfeltreffen mit Drittstaaten (USA - 20. November 2010 in Lissabon; die Ukraine - 22. November 2010 in Brüssel; Russland - am 7. Dezember 2010 in Brüssel) 
Rat der Europäischen Union (Tagung in Brüssel, 28.-29. Oktober 2010). Foto: Photographic service of the Council of the EU © European Communities
Die Führungsrolle Deutschlands in der Europäischen Union braucht ... 

Am Tag der Abreise versicherte die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag die Führungsrolle Deutschlands in der Europäischen Union:
"Ich stehe dafür ein, dass Deutschland eine führende Rolle dabei spielt, die gute Zukunft der Europäischen Union zu sichern."
Dies betonte auch der Bundesminister des Auswärtigen Guido Westerwelle in seiner Grundsatzrede bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik: 
"Deutschland wird in der Welt von morgen nur dann Beachtung finden, wenn wir gemeinsam mit unseren europäischen Partnern in der Union agieren. Deutschland bleibt Motor der Integration."
Die Frage ist aber, was sich hinter den Worten beider Reden verbirgt? Ich habe vier Wörter ausgewählt, nämlich deutsch, unser, europ(a)/(äisch) und gemeinsam. Zur Analyse rückte folgende Frage in den  Vordergrund: Braucht unser Deutschland gemeinsames Europa? Nach Auswertung der Wiederholung dieser vier  Wörter und des Zusammenhangs, in dem diese Wörter vorkamen, ergibt sich ein komplett verkehrtes Bild zum offiziell bekundeten Anspruch auf die Führungsrolle in der Europäischen Union: 
  • Regierungserklärung von Angela Merkel
Die Bundeskanzlerin wiederholte das Wort "deutsch" 37 Mal, "unser" 14 Mal, "europ" 50 Mal und "gemeinsam" 8 Mal. In Kombination ergibt dies 51 Mal "unser Deutschland" gegenüber 58 Mal "gemeinsames Europa". Hier bestätigt Angela Merklel ihre Bekenntnis zu Europa, rein zahlenabhängig. Aber wenn man diese Wörter im Zusammenhang analysiert, ergibt sich folgendes: Die Wörter "europ" und "gemeinsam" verwendet die Kanzlerin meistens im negativen Sinne: Schuldenstand, Krise, Probleme, Sanktionen, Schulden der Mitgliedsstaaten, Schuld der europäischen Institutionen, Gefährdung. Die Wörter "deutsch" und "unser" benutzt Angela Merkel im Zusammenhang mit Einigung mit Frankreich, Krisenbewältigung, Wirtschaftsaufschwung, sinkenden Arbeitslosenzahlen im eigenen Land. Und wenn sie den G-20 Gipfel in Seoul anspricht, so verwendet sie Wörter wie Welthandel, Wachstum, Weltwirtschaft, die  enger mit globaler Politik und Wirtschaft verbunden sind.  
  • Grundsatzrede von Guido Westerwelle
Der Bundesaußenminister wiederholte das Wort "deutsch" 54 Mal, "unser" 58 Mal, "europ" 46 Mal und "gemeinsam" 13 Mal. In Kombination ergibt dies 112 Mal "unser Deutschland" gegenüber 59 Mal "gemeinsames Europa". Und wenn der Außenminister sich klar hinter das Projekt europäische Integration stellt, umriss er am Anfang seiner Rede die klaren Linien deutscher Außenpolitik:
"Deutsche Außenpolitik ist aber nicht statisch. Sie ist immer auch ein Spiegelbild der Welt um uns herum. Die Gewichte auf dem Globus verschieben sich rasant. Heute sind unsere größten Exportmärkte Frankreich, die USA, Großbritannien und die Niederlande. Schon im kommenden Jahr könnte sich China auf Platz zwei schieben. (...) Ich würde mir wünschen, dass ein Land wie Deutschland seine globale Präsenz ausbaut, um den politischen Dialog und die Außenwirtschaftsförderung zu intensivieren." (Grundsatzrede)
Spürt Deutschland Führungsmüdigkeit? Vor welchen Herausforderungen sind beide Seiten gestellt? Wer braucht wen und zu welchem Preis?
"The EU needs Germany’s leadership more than ever, but fears its pre-eminence. Europe also needs consensus, but will not get it unless the Germans foster it. Matters will be even worse if Germany’s economic self-confidence comes across as political arrogance." (The Economist)
Reset ...

Ein Neustart der deutsch-europäischen Beziehungen bringe viele Risiken in einer globalisierten und multipolaren Welt mit sich. Deutsche Außenpolitik steht für Kontinuität und jede Abweichung von dieser Maxime würde dem politischen Image des Landes schaden. Ein Neustart bedeutet Wiederbelebung bilateraler (deutsch-französischer oder deutsch-polnischer) Kontakte, die geeignet sind, schneller auf die neuen Herausforderungen zu reagieren. 
"Mrs Merkel and Mr Sarkozy manage to resolve crises as they threaten to spin out of control. But Franco-German ambitions for Europe have sputtered. German standoffishness toward the EU is now based in law: a 2009 ruling by Germany’s Constitutional Court allowed it to ratify the Lisbon treaty but limited further transfers of power to Brussels. Soon the court may weigh in on the euro-zone bail-out."  (The Economist) 
Die Zersplitterung europäischer Interessen in der Vergangenheit, nämlich die Beteiligung am Irak-Krieg, das Raketenabwehrsystem in Tschechien und Polen, die Blockade einiger osteuropäischer EU-Staaten der Verhandlungen mit Russland, leiten Deutschland in neue Wege um. Die europäische Integration wird nicht mehr als konstant angesehen, sondern als flexibel und dringend veränderbar. Es entsteht ein Europa á la carte, das auf die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ziele und Perspektiven der einzelnen Mitgliedstaaten und nicht auf die Zusammenarbeit und die Integration in den Gemeinschaftspolitiken ausgerichtet ist. 

Beim Neustart stehen jedoch viele Updates zur Verfügung, die installiert werden können. 

... oder Update?
"Germany is becoming more “normal”, meaning more willing to use its strength and to accept responsibilities that go along with it. That looks to America like a good thing. But can Europe afford a more normal Germany?" (The Economist)
Deutschland wächst nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Deutsche Politiker nach Helmut Kohl sind mehr selbstbewusst und stehen vor der immer wachsenden Notwendigkeit, den Preis für die europäische Einigung zu rechtfertigen. Im Zuge der Schuldenkrise um Griechenland konnte Angela Merkel nur Mühe und Not die deutschen Ausgaben im Hintergrund von Milliardenausgaben für Rettung der heimischen Wirtschaft (Abwrackprämie, Bankenrettungsfonds, Opel- und Karstadt-Rettung) und des heimischen Arbeitsmarktes (Kurzarbeit) und im Hintergrund von Kürzungen im Sozialetat verantworten.

Es ist nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte deutsche Tradition gewesen, die kleineren Länder in die Verhandlung einzubeziehen, um eine gemeinsame europäische Meinung zu entwickeln. Das Besondere an der deutschen EU-Diplomatie bestand darin, zu moderieren, zu koordinieren und eine Führungsposition einzunehmen, ohne andere Länder zu übergehen. Dies wurde zu einer Falle im Vorfeld des EU-Gipfels in Brüssel. Viele warfen Deutschland vor, es habe gerade die kleinen Länder übergangen. Aber wie sich nach dem ersten Tag des Gipfels herausstellte, betrieb Deutschland eine angemessene Politik. Deutschland erkannte auch das Potenzial der neuen EU-Mitgliedsstaaten an, also der Visegrad-Staaten, der baltischen Staaten (Estlands) und der neuen EU-Mitglieder Rumänien und Bulgarien.
"Die 25 Telefonate, die die Kanzlerin in den vergangenen Tagen mit ihren EU-Partnern geführt hatte, zeigten offensichtlich Wirkung." (Spiegel Online)
Für Deutschland könnte dies eine große Chance sein, die schwierigen Interessenkonstellationen nach der Osterweiterung auszugleichen. Denn eine europäisierte deutsche Außenpolitik hängt davon ab, wie Deutschland mit seinen neuen und alten Partnern gerade im Osten Europas und neuen Problemen wie der politische und wirtschaftliche Ungang mit aufstrebenden Mächten wie China, Russland, Indien und Brasilien unter veränderten internationalen Vorzeichen (Stichwort Handelsprotektionismus, Wechselkursspekulationen, Rohstoffknappheit) umgehen wird.

Update, aber zu welchem Preis?
Angesichts der neuen Macht- und Kompetenzverteilung in der Europäischen Union bemängelt Deutschland die Unterrepräsentation im Europäischen Auswärtigen Dienst. Vor kurzem ernannte Catherine Ashton Pierre Vimont als Executive Secretary General und David O’Sullivan als Chief Operating Officer des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Im Herbst 2011 steht die Wahl zu Nachfolge vom EZB-Präsidenten Jean-Claude Trichet vor. Deutschland mobilisierte alle Kräfte, um den Namen Axel Weber (jetziger Präsident der Deutschen Bundesbank und Mitglied des EZB-Rates) durchzusetzen, obwohl der Name Bedenken bei Paul Krugman hervorruft.  
  • Anerkennung der deutschen Führung sind zwei Beispiele für ...
Immer wenn die Europäische Union von Krisen (politischen, wirtschaftlichen oder sozialen) heimgesucht wird, ist Deutschlands Führung gefragt. Sobald Deutschland diese Rolle übernimmt, erheben sich alte Ängste und Lasten der Mitgliedsstaaten. Die Vorwürfe, Deutschland habe am meisten von der Osterweiterung der Europäischen Union profitiert, gibt Deutschland selbst zu. Es ist nichts, wovor sich Deutschland schämen sollte: 
"Was die neuen Mitgliedstaaten der Europäischen Union anbelangt, so haben wir zwei Befunde. Der eine heißt für mich ganz klar, dass wir von der EU-Osterweiterung profitiert haben. Viele sehen das heute noch nicht ausreichend ein. Aber für die deutsche Wirtschaft und für den Wohlstand in Deutschland war es von außerordentlichem Vorteil, dass es diese Erweiterung um die neuen Mitgliedstaaten gab. Wir haben gleichwohl noch viel Luft nach oben, was die Entwicklung von Wirtschaftsbeziehungen anbelangt. So empfinde ich es jedenfalls im Hinblick unter anderem auf Bulgarien und Rumänien. Allerdings müssen wir auch dort immer wieder darauf hinweisen, dass transparente und verlässliche rechtliche Rahmenbedingungen das A und O für eine vernünftige Kooperation sind." (Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Jahresmitgliederversammlung 2010 des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft am 14. Oktober 2010 in Berlin)
  • eine gemeinsame Zukunft!
Eine gemeinsame Zukunft der Europäischen Union hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sich Deutschland zu seinen europäischen Wurzeln (wieder)besinnt. Und die politische Unterstützung von seinen europäischen Partnern und den europäischen Institutionen ist mehr denn je gefragt. Es handelt sich hier nicht um ein verwöhntes Kind, das Aufmerksamkeit von allen Seiten benötigt. Es handelt sich um einen Brückenbauer, der dringend nach Projektanten, Ingenieuren, Arbeitern und Auszubildenden in einem gleichwertigen Projekt sucht, die Europäische Union ins 21. Jahrhundert zu führen. Denn Deutschland scheut nicht vor der Zukunft einer multipolaren Welt, in der mehr Verantwortung aller Beteiligten abverlangt wird.
www.tips-fb.com

10 Kommentare:

EU21Global hat gesagt…

Battle over treaty change divides Europe ahead of summit (Link: http://euobserver.com/9/31148)

EU21Global hat gesagt…

"Die Vertragsänderung musste 'erkauft' werden. Der britische Premierminister David Cameron erhält die Zusage, dass das EU-Budget 2011 nur um 2,9 Prozent steigt. Bislang hatte das EU-Parlament das Doppelte gefordert. Cameron hielt dies mit Blick auf die hohe Staatsverschuldung in Europa für unangemessen. Zwischen 2014 und 2020 soll die Kommission die Ausgaben für einige Politikbereiche stark kürzen, wie es Großbritannien gefordert hatte. (...) Neun Staaten Osteuropas konnten durchsetzen, das Kosten für Struktur- und Pensionsreformen bei Defizitverfahren gesondert behandelt werden - und nicht automatisch zu EU-Sanktionen führen." (Link: http://www.euractiv.de/finanzplatz-europa/artikel/eu-gipfel-merkel-setzt-vertragsanderung-durch-003859)

EU21Global hat gesagt…

Bulgarien wählt das Lager von Merkel und Sarkozy (Борисов избра лагера на Меркел и Саркози), Link: http://www.novinar.net/news/borisov-izbra-lagera-na-merkel-i-sarkozi_MzQxMjs2MA==.html

EU21Global hat gesagt…

High Representative Catherine Ashton completes the EAS top management team (Link: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_Data/docs/pressdata/EN/foraff/117497.pdf)

EU21Global hat gesagt…

Westerwelle in Moskau: „Auf der Tagesordnung stehen die für die Seiten vorrangigen Fragen der Erneuerung der Sicherheitsarchitektur im Euro-Atlantischen Raum, die Regelung bzw. Prophylaxe von regionalen Konflikten, die Abrüstung und Non-Proliferation, der Widerstand gegen den internationalen Terrorismus und andere Herausforderungen und Bedrohungen, die Gewährleistung der strategischen Stabilität, die Problematik der Raketenabwehr sowie die Zusammenhänge dieser Bereiche untereinander und die Reihenfolge der Schritte im Bereich der Rüstungskontrolle und -begrenzung“

Link: http://de.rian.ru/politics/20101101/257547259.html

EU21Global hat gesagt…

"Muss man Angst vor Deutschland haben?" Deutschland und das post-romantische Europa
Link: http://www.euractiv.de/zukunft-und-reformen/artikel/deutschland-und-das-post-romantische-europa-003866

EU21Global hat gesagt…

Guido Westerwelle: "Europa muss die Regeln ändern"

Link: http://www.welt.de/channels-extern/ipad/politik_ipad/article10644194/Guido-Westerwelle-Europa-muss-die-Regeln-aendern.html

EU21Global hat gesagt…

Deutsche Rüstungsexporte: Kanonen für die Konjunktur (Link:http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,728405,00.html)

EU21Global hat gesagt…

Dublin's Merkel Problem: Irish Debt Causing New Jitters Across Europe (Link: http://www.spiegel.de/international/europe/0,1518,728582,00.html)

EU21Global hat gesagt…

Neighbors Without Fences/ The way forward is European integration, not spheres of influence (Link: http://www.ip-global.org/2010/11/11/1640/)

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